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Menschheits
dämmerung

Kunst in Umbruchzeiten

Tschabalala Self, Fade (2019)

Menschheits
dämmerung

Kunst in Umbruchzeiten

Tschabalala Self, Fade (2019)
Inhaltsverzeichnis

01
Einführung

Einführung

Die Ausstellung Menschheitsdämmerung. Kunst in Umbruchzeiten zeigt Kunstwerke aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die aus der Sammlung der Klassischen Moderne des Kunstmuseums Bonn stammen, im Dialog mit zeitgenössischen künstlerischen Positionen. Gemeinsam ist den Arbeiten aus beiden Epochen, dass ihr Entstehen in eine Zeit großer gesellschaftlicher, politischer und sozialer Krisen fiel und fällt – und dass diese Erfahrung in den Werken reflektiert und dargestellt wird: damals die Veränderung des Lebens durch die Folgen der industriellen Revolution, heute die aktuelle Transformation unseres gesellschaftlichen Miteinanders durch das Erleben des Klimawandels und der Erschöpfung der Ressourcen unserer Welt. Kriege und gewaltsame Konflikte, die unsere Existenz bedrohen, sowie Fragen nach Identität und Selbstbestimmung prägen sowohl den Beginn des 20. als auch des 21. Jahrhunderts.

Der Titel der Ausstellung Menschheitsdämmerung ist der gleichnamigen Gedichtsammlung von Kurt Pinthus aus dem Jahr 1919 entlehnt, die die expressionistische Lyrik des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts in vier Kapiteln zusammenfasst: „Sturz und Schrei“, „Erweckung des Herzens“, „Aufruf und Empörung“, „Liebe den Menschen“. Der Ausstellungsrundgang folgt in assoziativer Art und Weise diesen thematischen Ausrichtungen. Kunst wird hierbei als ein Mittel der Befragung der Welt verstanden, das neue Impulse für das Denken anstößt und damit auch gesellschaftlich agiert. Die Ausstellung zeigt die Krise, den gesellschaftlichen Umbruch im Blick der Kunst. Diese hinterfragt nicht nur Strukturen und bricht diese auf, sondern schafft auch neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten. Die Kunstwerke aus den beiden Jahrhunderten werden aufeinander bezogen oder zueinander in Kontrast gesetzt. So entsteht ein Netz von Bezügen und Verweisen, aber auch Unterschiede und Gegensätze werden sichtbar gemacht.

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

In allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Mit diesen Zeilen von Jakob von Hoddis beginnt die Gedichtsammlung „Menschheitsdämmerung“ aus dem Jahr 1919. Damals war es ein Pionierwerk deutscher Sprache mit linguistischer als auch gesellschaftlicher Schlagkraft. Die Gedichte wenden sich nicht nur gegen die traditionelle Lyrik, sondern auch gegen die im Umbruch befindlichen klassischen Systeme und Weltbilder. Statt den alphabetischen oder chronologischen Ordnungen anderer Sammlungen zu folgen, gruppiert der Herausgeber Kurt Pinthus die Gedichte thematisch nach brennenden Anliegen und Merkmalen des Zeitgeists. Gedanken der Zerstörung, der Krise, der Veränderung, aber auch der Chance, der Menschlichkeit, der Verbundenheit und der Fürsorge durchziehen die Bilder, die Jakob von Hoddis, Gottfried Benn, Georg Trakl, Else Lasker-Schüler, Georg Heym und weitere von ihrer Zeit zeichnen.

„Die neue Gemeinschaft wurde gefordert. Und so gemeinsam und wild aus diesen Dichtern Klage, Verzweiflung, Aufruhr aufgedonnert war, so einig und eindringlich posaunten sie in ihren Gesängen Menschlichkeit, Güte, Gerechtigkeit, Kameradschaft, Menschenliebe aller zu allen,“ fasst Pinthus in seinem Vorwort die Botschaft der Dichter:innen zusammen, deren Gedichte er in „Menschheitsdämmerung“ sammelte.

Sturz und Schrei

03
Sturz
und Schrei

Das Stürzen ist ein Bild für das Zusammenbrechen, auch im übertragenen Sinn als das Einstürzen einer gesellschaftlichen Struktur, einer Gemeinschaft... Zugleich impliziert es auch einen Zustand des Fallens, in dem man die Kontrolle über die Bewegung verloren hat, womit der Ausgang des Sturzes offen ist.

Der Schrei ist ein kommunikatives Zeichen des Betroffen-Seins. Der Schrei ist, wenn er an andere adressiert ist, ein Appell. Um Hilfe schreit man, wenn man den Anderen zum Handeln auffordern möchte. Vor Angst schreit man, wenn man bedroht ist. Man schreit, wenn man wütend ist…  

Grace Ndiritu

* 1982

Die Tapisserien The Twin Tapestries: Repair (1915) & Restitution (1973) (2022) sind Weiterentwicklungen zweier historischer Fotografien. Die Fotografien zeigen Museumsmitarbeiter:innen mit den Exponaten der jeweiligen ethnologischen Sammlung. Diese Objekte, deren Entwendung aus ihren Kulturräumen auf psychischer und physischer Gewalt beruht, werden für die Fotografien triumphal zur Schau gestellt – eine pompöse Aufführung des kolonialistischen Egoismus westlicher Nationen. Ndiritu macht die Kritik an der Institution Museum selbst zum Ausstellungsobjekt und verbildlicht die stetige Selbstreflektion, die in Museen passieren muss, damit sie die Aufträge der komplexen, sich wandelnden Gesellschaft erfüllen können.

Francis Alÿs

* 1959 Antwerpen, lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt

Im Zentrum von Francis Alÿs‘ Arbeit steht die Beschäftigung mit verschiedenen Strukturen und Systemen von Macht. Ohne Titel (2016) stellt anhand der Poetik der Reflektion die Vergänglichkeit und Mehrdeutigkeit eines Zustands und seiner Bewertung heraus. Zarte Linien und durchlässige Grenzen betonen die widersprüchlichen Ordnungen des Natürlichen und des Menschengemachten. In diesen Landschaften, in die die Betrachter:innen durch den Spiegel integriert werden, scheint jede Bewegung die Balance der Bildwelt und der Installation erschüttern zu können.

Rebekka Benzenberg

* 1990 Duisburg, lebt und arbeitet in Berlin

Mit klaren, oft schriftlichen Botschaften in pessimistischem Ton äußert sich Rebekka Benzenbergs Kunst zu sozialen und politischen Fragen. Im Werk Too much future (2020) wird ihre Aussage mit Bleichmittel in Echtpelz-Mäntel geätzt. Zukunftsgerichteter Optimismus widerspricht sich auf dem Untergrund der Felle toter Tiere selbst und scheint den Betrachter:innen die Notwendigkeit schneller Aktion entgegenzuschreien.

Rebekka Benzenberg, Too much future, 2020

Rebekka Benzenberg, Too much future, 2020

Sammlung Peters-Messer, Viersen, Foto: Sascha Herrmann, © Rebekka Benzenberg

Heinrich Nauen

* 1880 Krefeld – 1940 Kalkar

Nüchtern schildert der Titel Knieendes und sich vorbeugendes Mädchen (1905) das Motiv, welches Heinrich Nauen skizzenhaft auf Papier festhält. Dem dokumentarischen Eindruck einer Bewegungsstudie steht jedoch die Emotionalität der Bewegung des Mädchens und der Einsatz der dunklen Aquarellfarbe entgegen. Der Schwung der Haare zieht die Dargestellte visuell ins Ungleichgewicht und ins Taumeln. Trotz der ruhigen Handlung scheint die Zeichnung einen Moment darzustellen, der voller Spannung nur auf eine Reihe folgender Handlungen zu warten scheint.

Heinrich Nauen, Knieendes und sich vorbeugendes Mädchen, 1905

Heinrich Nauen, Knieendes und sich vorbeugendes Mädchen, 1905

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

Marie von Malachowski-Nauen

* 1880 Hannover – 1943 Kalkar

Innerhalb der Bildwelt von Marie von Malachowski-Nauens Verdammnis (1922-1924) steht die Zeit still und friert den letzten Moment vor dem unvermeidlichen Unglück ein. Ein einziger verstrichener Moment bedeutet in dieser Welt, dass der Mensch von Flammen verbrannt, vom Teufel gepackt und von Schlangenwesen zerrissen wird. Die Ruhe vor dem Sturm. Obwohl die Figur in Angesicht ihrer Ausweglosigkeit zu schweben scheint, ist sie durch die tiefschwarzen Konturen ihrer Glieder visuell bereits Teil des Fegefeuers. In der Welt außerhalb des Bildes verrinnt die Zeit indessen unaufhaltsam und auch hier bewegt der Mensch sich in Anbetracht der wachsenden Folgen des Klimawandels auf ein Unheil zu.

Marie von Malachowski-Nauen, Verdammnis, Teil eines 19-teiligen Konvoluts, 1922-1924

Marie von Malachowski-Nauen, Verdammnis, Teil eines 19-teiligen Konvoluts, 1922-1924

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

Hans Thuar

* 1887 Treppendorf – 1945 Langensalza

Hans Thuars Gemälde Gefällter Baum (Flodeling) (1912) fügt sich aus Gegensätzen zusammen. Der Maler taucht die zentrale Baumgruppe in ein kühles Blau sowie den Riegel der Häuserreihe am Horizont in warmes Orange. Somit verleiht er anhand der Emotionalität der Farben eine sensorische Wertung der Zivilisation, die im Kontrast zum kalten Wald wohlig und warm wirken mag. Durch einen ähnlichen Farbeinsatz an den Schnittkanten des Baums sowie den Häusern im Hintergrund bindet er die Zerstörung der Natur visuell an die Menschen am Rand des Waldes. Aktuell scheint die Szene idyllisch und ruhig, doch sie prophezeit den weiteren Fortschritt der Zivilisation, die mit der Entwurzelung des Menschen und dem Verlust der Naturbindung einhergeht.

Hans Thuar, Gefällter Baum (Flodeling), 1912

Hans Thuar, Gefällter Baum (Flodeling), 1912

Dauerleihgabe aus Privatsammlung , Foto: David Ertl

Helmuth Macke

* 1891 Krefeld – 1936 Hemmenhofen

Durch ein Gewirr an Richtungen und variierenden, trüben Farben erhalten die Betrachter:innen in Zerstörte Wassermühle bei Hermeville (1916) einen Einblick in eine Bildwelt, die sich, wie von einem Sturm zerrüttet, ungemütlich und karg anfühlt. Es ist unklar, ob die Zerstörung Folge des Ersten Weltkriegs oder der Urbanisierung und Technisierung ist. Zum Leid der Bewohner:innen zerstört oder willentlich verlassen, steht die Ruine nun gerade noch als Symbol der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. So wie die Zivilisation die Natur vereinnahmte, verließ sie diese auch und hinterließ ein Monument menschlichen Strebens nach Entwicklung, welches widersprüchlicher Weise erneut von der Natur übernommen werden darf.

Helmuth Macke, Zerstörte Wassermühle bei Hermeville, 1916

Helmuth Macke, Zerstörte Wassermühle bei Hermeville, 1916

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

William Straube

* 1871 Berlin – 1954 Neufrach

Das Antlitz von William Straubes Verwundeten (1914) formt sich anhand körniger grauer Schlieren wie aus einem Nebel und erlaubt den Effekt eines unverstellten Einblicks in zeitloses menschliches Leid. Wenige Linien genügen, um den weißen Verband vom Gesicht abzuheben sowie die klamme Haut und den leeren Blick der Person herauszustellen. Während die Verletzung für den Verwundeten das Ende seines Lebens bedeuten mag, zeichnet das Entstehungsjahr 1914 erst den Beginn des Ersten Weltkriegs. Straubes Bild wirkt in diesem Kontext wie ein schlechtes Omen der Kriegsopfer, die damals noch bevorstehen sollten.

William Straube, Verwundeter, 1914

William Straube, Verwundeter, 1914

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

Monika Sosnowska

* 1972 in Ryki/Polen, lebt und arbeitet in Warschau

Monika Sosnowska ist dafür bekannt, sich das Vokabular verschiedener architektonischer Entwicklungen und Strömungen anzueignen und zu neuen Wirkungen zu verfremden. Die Materialien Beton und Stahl, die sie für die Skulpturen Pillar (2018) nutzte, sind typisch für ihr Schaffen. Visuell sowohl an den modernen Brutalismus als auch an Pfeiler antiker Bauwerke erinnernd, zeigen Sosnowskas Skulpturen deutliche innere Spannungen. Der Stahl, der aus dem Beton ragt und einzelne Brocken verbindet, assoziiert die Drähte eines Stromkabels und die Bautechnik des Monierbetons, die seit der Moderne im Einsatz ist. Indem die Bildhauerin die Architekturen verschiedener Kulturen kontrastiert, rückt sie auch Entstehung und Zerstörung in eine beunruhigende Nähe zueinander.

Liebe den Menschen

04
Liebe den Menschen

Liebe ist ein Gefühl von tiefer Zuneigung und Verbundenheit. Die Aufforderung „Liebe den Menschen“ suggeriert die Idee, dass die Menschen nur durch gegenseitige Liebe eine Chance auf die Zukunft haben. Es ist eine Aufforderung zu einem liebenden Miteinander als Basis einer (neuen) Gemeinschaft. Jede Form der liebenden Verbundenheit ist hier impliziert.

Käthe Kollwitz

* 1867 Königsberg (heute Kaliningrad) – 1945 Moritzburg

Aus der männlich dominierten Kunstgeschichte ergeben sich gleichsam männlich dominierte Bildwelten, die die Erziehung von Kindern in die Zuständigkeit der Frauen und damit oftmals aus der Bildwürdigkeit drängen. Die aktuelle Diskussion um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als auch die „Care-Gap“-Diskussion finden Anfang des 20. Jahrhunderts ein frühes Pendant in Käthe Kollwitz‘ Werk. Die Thematik von Mutter und Kind (1910) als kunstwürdig zu betrachten, ist eine klare Demonstration feministischer Stärke. Dieses Selbstverständnis beweist Kollwitz auch mit ihrem Selbstbildnis (1909), mit dem sie sich in androgynem und alterslosem Auftreten zu den von Männern geschaffenen Frauendarstellungen gesellt, die vor allem die Schönheit der Frau in den Vordergrund stellen. Die Gefangenen (1908) steht der Menschlichkeit der zwei anderen Motive Kollwitz’ entgegen. Wie in der Massentierhaltung zusammengepfercht, werden die Menschen hier zu einer unzählbaren Masse körperlich ähnlicher ihrer Individualität beraubter Gestalten, deren Rechte in der Gefangenschaft ebenfalls eingeschränkt werden.

Emma Talbot

* 1969 in Stourbridge/England, lebt und arbeitet in London

Emma Talbots Arbeit entstammt tiefgreifenden Fragen des menschlichen Bewusstseins und setzt diese in eine traumartige Ästhetik. In den farbigen Strudeln und verschmolzenen Körpern scheint der einzelne Mensch nur ein Teil größerer Erfahrungen zu sein. Keening Songs (2021) und Fluid (2018) zeichnen eine Lebensgrundlage aus Natur, Liebe, Leben und Energie auf: ein Mantra für die Betrachter:innen, sich auf die Stimulation durch Farbe und Licht einzulassen und sich auf das Existenzielle der Menschlichkeit zu besinnen.

Zanele Muholi

* 1972 in Umlazi/Südafrika, lebt und arbeitet in Umbumbulu, KwaZulu-Natal/Südafrika

Die non-binäre Künstler:in Zanele Muholi arbeitet dafür, den lesbischen und Transgender-Personen Südafrikas durch die Fotografie Gehör und Achtung zu verschaffen. Das Selbstporträt Zonk’zizwe, Green Market Square, Cape Town (2017) zeigt Muholi in dem vom Titel bezeichneten Green Market Square (einem ehemaligen Umschlagplatz für Menschenhandel), welcher nun ein Markt für Souvenirs ist. In die Schatten starker Kontraste gehüllt, steht die Person mysteriös und selbstbewusst, umgeben von Artefakten ihrer Kultur. Diese sind mittlerweile jedoch weniger ihr eigen, werden sie doch für andere Kulturen und den Verkauf an Touristen aufbereitet. Die Fotografie stellt Fragen nach der Definition einer individuellen Persönlichkeit und den Auswirkungen des Westens auf afrikanische Identitäten.

Zanele Muholi, Zonk’zizwe, Green Market Square, Cape Town, 2017

Zanele Muholi, Zonk’zizwe, Green Market Square, Cape Town, 2017

Sammlung Scharpff-Striebich, Foto: David Ertl, © Zanele Muholi

Heinrich Campendonk

* 1889 Krefeld – 1957 Amsterdam

Heinrich Campendonks Werk ist für die kaleidoskopartige Zergliederung der Motive zu Farbflächen bekannt. Neben dieser formalen Thematisierung des Sehens, rückt Mann und Maske (1922) auch inhaltlich die Ambivalenz des visuellen Anscheins ins Zentrum. In intensives Rot getaucht, verschmelzen die Bildebenen des Menschen und seiner Umgebung. Die Maske im Bildzentrum lässt sich als Sinnbild des Spiels von Verbergen und Offenbaren verstehen und kann über die gutbürgerliche Kleidung des Mannes zu gesellschaftlichen Normen in Bezug gesetzt werden. Mädchen mit Fröschen (1917) birgt eine vergleichbare mystische, in diesem Fall märchenhafte Wirkmacht. Dargestellt ist ein junges Mädchen, das anstelle von Kleidung von Pflanzen und Formen ummantelt ist. Sie scheint Teil der Natur zu sein, verbunden, verhüllt und von Flora und Fauna vor dem beschützt, das außerhalb jener natürlicher Ordnung liegt.

Heinrich Campendonk, Mädchen mit Fröschen, 1917

Heinrich Campendonk, Mädchen mit Fröschen, 1917

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Heinrich Campendonk, Mann mit Maske, 1922

Heinrich Campendonk, Mann mit Maske, 1922

Kunstmuseum Bonn, Foto: Reni Hansen, Kunstmuseum Bonn, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Alexej von Jawlensky

* 1864 Torschok/Russland – 1941 Wiesbaden

Der Titel Helene mit blauem Turban (1911) identifiziert die Dargestellte als Helene Nesnakomoff, eine jüngere Bedienstete und Geliebte des Künstlers. Viele Gemälde Alexej von Jawlenskys zeigen sie in der Kleidung verschiedener Kulturräume, kostümartig inszeniert und durch den Werktitel genau dokumentiert. Sowohl sie als auch die symbolisierten Kulturen werden durch den Künstler für seine Kunst ausgelegt und angeeignet. Trotz der passiven Rolle der Portraitierten nimmt Helene mit ihrem direkten Blick eine aktive Position in der Beziehung zu den Betrachter:innen ein. Mädchen mit niedergeschlagenen Augen (um 1912) hingegen suggeriert die Macht, die durch den Blickenden ausgeübt wird. Mit geschlossenen Augen fällt, aus heutiger, die Genderproblematik diskutierender Perspektive, jegliches Kontrollmittel der Sitte und des Schams und der Blick kann frei über die Betrachtete walten.

Alexej von Jawlensky, Mädchen mit niedergeschlagenen Augen, um 1912

Alexej von Jawlensky, Mädchen mit niedergeschlagenen Augen, um 1912

Kunstmuseum Bonn, erworben mit finanzieller Unterstützung des Westdeutschen Rundfunks, Foto: Reni Hansen

Alexej von Jawlensky, Helene mit blauem Turban, 1911

Alexej von Jawlensky, Helene mit blauem Turban, 1911

Kunstmuseum Bonn, Dauerleihgabe aus Privatsammlung, Foto: Reni Hansen

Deborah Roberts

* 1962 in Austin/Texas, lebt und arbeitet in Austin/Texas

Anhand der Kombination von Medienbildern, Malerei und Zeichnung schafft Deborah Roberts Abbildungen des Menschen, die mit ihrem kaleidoskopartigen Charakter komplex und schwer zu fassen sind. Portraits: When they look back (No. 1) (2020) bildet ein besonders reduziertes und düsteres Beispiel Roberts‘ Werk. Mit dem schwarzen Hintergrund verschmolzen, blickt eine Person of Color bestimmt aus dem Schatten hervor.

Deborah Roberts, Portraits: When they look back (No. 1), 2020

Deborah Roberts, Portraits: When they look back (No. 1), 2020

Sammlung Scharpff-Striebich, Foto: Paul Bardagjy, © Deborah Roberts

Anys Reimann

* 1965 in Melsungen, lebt und arbeitet in Düsseldorf

Die Kunst Anys Reimanns ist dafür bekannt, keine Grenzen für Identitäten oder soziale Rollen auszumachen. Die zwei Werke LE NOIRE DE… VII (2021) und ODALISKE (2022) eröffnen mit ihren Titeln Bezüge zu spezifischen Hautfarben, kulturellen Hintergründen und sozialen Stellungen, welche jedoch im Werk bewusst aufgelöst werden. In Collagen diverser Körper- und Gesichtspartien ergänzen sich visuelle Unterschiedlichkeiten poetisch zu einzelnen People of Color.

Anys Reimann, LE NOIRE DE… VII, 2021

Anys Reimann, LE NOIRE DE… VII, 2021

Courtesy Düsseldorf

Anys Reimann, ODALISKE, 2022

Anys Reimann, ODALISKE, 2022

Sammlung Scharpff-Striebich, Foto: D. Steinfeld, © D. Steinfeld | VAN HORN, Düsseldorf

Carlo Mense

* 1886 Berlin – 1965 Königswinter

Carlo Menses Arbeiten sind oft von einer hohen visuellen Dynamik geprägt, die den schnellen Veränderungen seiner Zeit visuell Rechnung trägt. Seine Motive wirken, als würden sie von einem starken Wind an den Betrachter:innen vorbeigeweht. Dabei vermischen sich und verschmelzen die mehr oder weniger realistischen Motive mit den sie bedrängenden abstrakten Formen. Der Linolschnitt Drei Männer (1914) setzt den Menschen inmitten dieser turbulenten Situation aus. Für ihn gilt es nun, seine neue Beziehung zur Umwelt und den Mitmenschen auszutarieren. Obgleich ein einzelner Körper gut zu identifizieren ist, lösen sich einzelne Gliedmaßen von den Figuren und treten in mehrdeutigen Kontakt zu andere Körpern. Die dargestellten Figuren sind nackt, lehnen aneinander, berühren sich. Aus dem Dunkel des Hintergrunds scheinen weitere Figuren ins Geschehen einzugreifen.

Carlo Mense, Drei Männer, 1914

Carlo Mense, Drei Männer, 1914

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

August Macke

* 1887 Meschede – 1914 Perthes-les-Hurlus/Frankreich

Bereits seit der Frühen Neuzeit finden sich in der mythologischen Motivik der größtenteils männlichen Künstler erotisierende Bildelemente. Ein Sujet, welches Künstler:innen über Jahrhunderte inspirierte und Nacktheit als Attribut nutzt, ist die römische Göttin der Liebe, Venus. August Mackes Venus mit Amor (1913) thematisiert den Reiz des Beobachtens anhand des abgekehrten Blickes der Venus und der im Hintergrund die Szenerie betretenden Person. Den Betrachter:innen wird die Kontrolle überlassen, mit den Blicken frei über den präsentierten Körper zu streifen und damit eine Herrschaft des Blicks auszuüben. Sie bilden das Spiegelbild der die Zweisamkeit störenden Person im Hintergrund, welche die zärtliche Berührung von Mutter und ihrem Sohn Amor unterbricht und die Nacktheit der beiden im Vergleich zu ihrer Kleidung betont.

August Macke, Venus mit Amor, 1913

August Macke, Venus mit Amor, 1913

Kunstmuseum Bonn, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, Foto: David Ertl

Wilhelm Lehmbruck

* 1881 Meiderich – 1919 Berlin

Obwohl der beschreibende Titel Weiblicher Torso (1910-1911) den Charakter einer formalen Studie des Körpers vermittelt, ist die Emotionalität in der Plastik von Wilhelm Lehmbruck kaum bestreitbar. Im langen Hals, den schmalen Schultern und dem entrückten Blick steckt eine Zartheit, die mit der Bodenständigkeit des muskulösen Rumpfs und des trüben Steins um Oberhand ringt. Trotz der visuellen Schwere und Stabilität des Materials wirkt die dargestellte Person in ihrer Nacktheit verletzlich. Die Skulpturen Wilhelm Lehmbrucks bilden eine Zerreißprobe der transzendentalen Wirkmacht und der erdenschweren Form ab.

Wilhelm Lehmbruck, Weiblicher Torso, 1910-1911

Wilhelm Lehmbruck, Weiblicher Torso, 1910-1911

Kunstmuseum Bonn, Foto: Reni Hansen

Tschabalala Self

* 1990 in Harlem, lebt und arbeitet in New York

Im Mittelpunkt Tschabalala Selfs Werks steht der menschliche Körper. Ausgefüllt mit verschiedenen Textilien, Farben und Mustern, transportiert er kulturelle Bedeutungen und Hintergründe. An dem Werk Fade (2019) ist nur der menschliche Umriss „typisch“. Die collagierten Gesichtszüge und Körperteile erlauben verschiedenen Formen und Farben, ein freies Bild eines komplexen Menschen zu ergeben. Das Ergebnis scheint trotz der exzentrischen, bühnenhaften Wirkung vertraut.

Tschabalala Self, Fade (2019)

Tschabalala Self, Fade (2019)

Sammlung Scharpff-Striebich, Foto: Tschabalala Self, © Tschabalala Self

August Macke

* 1887 Meschede – 1914 Perthes-les-Hurlus/Frankreich

Außereuropäische Kulturen waren den Eurpäer:innen jahrhundertelang ein Faszinosum und eine Projektionsfläche. So auch den Künstler:innen der Klassischen Moderne wie August Macke, die auf Reisen, das ihnen ‚Fremde‘ bestaunten und in ihrer Kunst festhielten. Aus heutiger Perspektive fällt auf, dass die dargestellten Personen nur zu Motiven und Symbolen ihrer Kulturräume gemacht wurden, ohne in der europäischen Kunst und Gesellschaftsordnung selbst zu Wort kommen zu dürfen. Aus diesem Grund werden in der Ausstellung Kunstwerke der klassischen Moderne durch die Kunst von People of Colour wie Tschabalala Self und Anys Reimann begleitet, kommentiert und in einen zeitgenössischen Kontext eingeordnet.

Zum Werktitel: Bitte beachten Sie, dass der Werktitel aus dem 20. Jahrhundert stammt. Die Verwendung der diskriminierenden Bezeichnung „Indianer“, die aus der Kolonialzeit stammt, möchten wir hiermit dezidiert problematisieren.

August Macke, Indianerköpfe (1913)

AUGUST MACKE, Indianerköpfe (1913), Kunstmuseum Bonn, Schenkung Verein der Freunde, Foto: Reni Hansen

Louisa Clement

* 1987 in Bonn, lebt und arbeitet in Bonn

Louisa Clement navigiert ihr Werk seit Jahren entlang der Schnittstelle des Natürlich-Menschlichen und der technologischen Entwicklungen. 2021 erschuf sie die Werkgruppe der mit künstlicher Intelligenz programmierten Repräsentantinnen. In diesen Kopien ihrer selbst steigert sich die vorhergegangene Beschäftigung auf eine unheimliche Weise, indem die Puppen der Künstlerin nicht nur optisch gleichen, sondern auch über ihre gesamten persönlichen Informationen und Daten verfügen und sie, dank einer eigens programmierten künstlichen Intelligenz, möglichst naturgetreu nachahmen. Dabei entwickeln sie ein Eigenleben als Wiedergängerinnen Louisa Clements, das sie durch die Interaktion mit den Besucher:innen ständig ausbauen.

Louisa Clement, Repräsentantin (2021)

Louisa Clement, Repräsentantin (2021)

Courtesy die Künstlerin, © Louisa Clement

Erweckung des Herzens

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Erweckung des Herzens

Die Erweckung ist ein Zustand des Gewahr-Werdens sowie des Berührt-Werdens. Sie zeigt den Moment des Erkennens, des „Aufwachens“, in dem die Perspektive sich verändert und Neues sichtbar und möglich wird.

Andrea Bowers

* 1965 in Wilmington/Ohio, lebt und arbeitet in Los Angeles

Andrea Bowers‘ Kunst basiert auf klaren politischen und insbesondere feministischen Einstellungen. Werke wie It is Good to Remember that the Planet is Carrying You, Quote by Vandana Shiva (Ecofeminist Oak Branch Series) (2021) betten umweltbewusste Aussagen in eine Comic-artige Farb- und Formsprache. Auf dem Untergrund eines braunen Kartongeflechts ergeben diese grellen Farben einen Kontrast zwischen der Natur und dem schrillen Farbwettbewerb unserer Medienkultur.

Andrea Bowers, Kinship is More Than Human, Quote by Vandana Shiva (Ecofeminist Oak Branch Series), 2021

Andrea Bowers, Kinship is More Than Human, Quote by Vandana Shiva (Ecofeminist Oak Branch Series), 2021

Courtesy die Künstlerin und Capitain Petzel, Berlin, Foto: Gunter Lepkowski, © Andrea Bowers

Andrea Bowers, It is Good to Remember that the Planet is Carrying You, Quote by Vandana Shiva (Ecofeminist Oak Branch Series), 2021

Andrea Bowers, It is Good to Remember that the Planet is Carrying You, Quote by Vandana Shiva (Ecofeminist Oak Branch Series), 2021

Courtesy die Künstlerin und Capitain Petzel, Berlin, Foto: Gunter Lepkowski, © Andrea Bowers

Nevin Aladağ

* 1972 in Van/Türkei, lebt und arbeitet in Berlin

In Nevin Aladağs Werk werden Installation und Plastik, Video und Performance zu Werkzeugen, um kulturelle Begegnungen zu untersuchen und erfahrbar zu machen. Die Werke Social Fabric, jumping (2022) und Social Fabric, shifting (2022) widmen sich dem Teppich als Gebrauchsobjekt sowie als Ausweis sozialer Zugehörigkeit und persönlicher Identität. Zergliedert und zu neuen Mustern zusammengefügt, lassen die Teppiche sich als kulturelle Collagen lesen. Die Worte „jumping“ und „shifting“ weisen auf die stetige Veränderung von Kultur und Identität hin, die sich auch von Aladağs Werken nicht einfrieren lassen.

Nevin Aladağ, Social Fabric, shifting (2022)

Nevin Aladağ, Social Fabric, shifting (2022)

Courtesy die Künstlerin, Foto: Daniela Kohl, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Nevin Aladağ, Social Fabric, jumping (2022)

Nevin Aladağ, Social Fabric, jumping (2022)

Courtesy die Künstlerin, Foto: Daniela Kohl, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Lawrence Weiner

* 1942 New York – 2021 New York

Im Gegensatz zu Farbe und Pinsel ist das Werkzeug des Konzeptkünstlers Lawrence Weiner die Sprache. In humorvoller Widersprüchlichkeit formuliert er den Slogan A pursuit of Happiness asap / Ein Streben nach Glück so bald wie möglich (2004), mit dem er den menschlichen Drang nach Optimierung und den Wunsch nach Glück charakterisiert. Das inspirierende Mantra wirkt nach Weiners Feder mehr wie die harsche Anweisung eines CEOs an sein Team, das Produkt der Glückseliglichkeit „As Soon As Possible“ zu optimieren.

Lawrence Weiner,  A pursuit of Happiness asap / Ein Streben nach Glück so bald wie möglich (2004)

Lawrence Weiner, A pursuit of Happiness asap / Ein Streben nach Glück so bald wie möglich (2004)

Courtesy FLAG Art Foundation, Sammlung Glenn und Amanda Fuhrman NY, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

August Macke

* 1887 Meschede – 1914 Perthes-les-Hurlus/Frankreich

Die Seidenstickerei „Der Traum des Jünglings“, die vermutlich von August Mackes Frau Elisabeth Macke, ihre Mutter Sophie Gerhardt und ihrerGroßmutter Katharina Koehler nach einem Entwurf des Künstlers angefertigt wurde, zeigt Traumlandschaften des im Bildvordergrund träumenden Jünglings. Die Szenen, die er sich zu den Harfenklängen der rechts sitzenden Märchenerzählerin ausmalt, überschneiden sich mit typischen Darstellungen Asiens in Europa. Seit dem 15. Jahrhundert kursierten Bilder asiatischer Länder auf Objekten des Kunsthandwerks, die zwischen Asien und Europa gehandelt wurden. Auf der Grundlage von bemaltem Porzellan, bestickten Textilien und Reiseberichten formten sich Europäer:innen ein Bild ferner asiatischer Länder, die sie zeitweise als philosophisches, politisches und ästhetisches Sehnsuchtsobjekt idealisierten – ähnlich zu der „Neuen Welt“, Amerika. Im Kontrast zu Amerika unterlag die Beziehung Europas zu Asien jedoch immer eine Hierarchie aufgrund der chauvinistischen Ordnung und Objektivierung Asiens durch wohlhabende Europäer:innen.

August Macke, Seidenstickerei 'Der Traum des Jünglings' - Märchenerzählerin, (1913)

AUGUST MACKE, Seidenstickerei 'Der Traum des Jünglings' - Märchenerzählerin (1913), Kunstmuseum Bonn, Schenkung aus Privatbesitz, Foto: Reni Hansen

Max Ernst

* 1891 Brühl – 1976 Paris

Die Kunst Max Ernsts zeichnet sich durch ein hohes Maß an Kreativität im Umgang mit seinem Material aus. Den Alltag und die Natur um ihn herum verwandelt er zu fantasievollen Welten aus Farben und Wirbeln. Das Gemälde Von der Liebe in den Dingen (1914) lässt die Betrachter:innen durch die geometrischen Formen nur erahnen, um welche „Dinge“ es sich handelt. Die Leidenschaft, die Ernst in das Experiment und die Erkundung des Wesens des Lebendigen steckt, ist jedoch offenbar. Seine Kunst spricht dem Ding als auch der Natur eine Handlungsmacht und einen Charakter zu, wie sie unter anderem die Grundlage verschiedener Strategien ökologischer Bewusstmachung bildet.

Max Ernst, Von der Liebe in den Dingen (1914)

Max Ernst, Von der Liebe in den Dingen (1914)

Kunstmuseum Bonn, Schenkung Wilfried Fitting, Foto: David Ertl, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Aufruf und Empörung

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Aufruf und Empörung

Der Aufruf richtet sich an andere (Menschen), zu hören, zu sehen, zu handeln, teilzuhaben und sich zu organisieren. Er fordert eine Haltung ein.

Die Empörung impliziert ein empfundenes Unrecht, auf das man mit Empörung reagiert. Die Empörung kann zu Widerstand gegen vorhandene Strukturen führen.

Goshka Macuga

* 1967 in Warschau, lebt und arbeitet in London

Mit den Techniken des Videos, der Fotocollage, der Skulptur und der Performance entwirft die Künstlerin packende Narrationen an der Schnittstelle von Fiktion und Naturhistorie. From Gondwana to Endangered, Who is the Devil Now? (2020) reiht sich ein in Macugas Beschäftigung mit der Auswirkung des Eingriffs des Menschen in die Pflanzen- und Tierwelt. Der Urkontinent „Gondwana“ ist auf Macugas 3-D-Tapisserie nur noch eine ferne Erinnerung des in Flammen stehenden Walds. Während einige Tiere versuchen, diesem zu entfliehen, halten andere mutig an ihren Demonstrationsbannern fest, obwohl ihre Heimat bereits der völligen Zerstörung geweiht scheint.

Goshka Macuga, From Gondwana to Endangered, Who is the Devil Now? (2020)

Goshka Macuga, From Gondwana to Endangered, Who is the Devil Now? (2020)

Courtesy die Künstlerin und Galerie Rüdiger Schöttle, Foto: Wilfried Petzi, © Goshka Macuga und VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Paul Adolf Seehaus

* 1891 Bonn – 1919 Hamburg

Im Antlitz der zeitgenössischen Technologisierung und Urbanisierung spricht Sturm (1915) von einem Kampf zwischen Natur und Mensch. Die düstere vom Menschen geformte Welt, die Paul Adolf Seehaus‘ Werk dominiert, lässt sich in der Beschäftigung mit der dynamischen Entwicklung neuer Technologien mit heutigen Science-Fiction-Dystopien vergleichen. Diese Welt lässt keinen Raum für organische, runde und natürliche Formen und so nehmen auch die Wellen geometrische Ecken an, die das Verletzungs- und Zerstörungspotential sichtbar werden lassen.

Paul Adolf Seehaus, Sturm (stürmische See mit ausfahrendem Ruderboot, zwei Frauen am Strand), (1915)

Paul Adolf Seehaus, Sturm (stürmische See mit ausfahrendem Ruderboot, zwei Frauen am Strand), (1915)

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

Max Liebermann

* 1847 Berlin – 1935 Berlin

Der Wind peitscht und jeder Muskel – egal ob Mensch oder Pferd – ist angespannt. Mit einer Menge gebogener Linien setzt Max Liebermann die Szene eines das Schwert schwingenden Reiters in Attacke (1914) unter Strom. Die Energie des Reiters ist sichtbar, das Ziel jedoch nicht. Es scheint ein Angriff des Unbestimmten und Unbekannten zu sein. Entstanden 1914, im Jahr des Beginns des Ersten Weltkriegs, lässt sich ein Bezug zur damaligen blinden Kriegseuphorie ausmachen. Der preußische Helm, die sogenannte Pickelhaube, welche den Anforderungen der modernen Kriegsführung des Ersten Weltkriegs nicht mehr entsprach und ersetzt wurde, unterstreicht aus heutiger Perspektive die Tragik gegnerloser und sinnloser Angriffsbereitschaft.

Max Liebermann, Attacke (Soldat auf galoppierendem Pferd), aus: „Kriegszeit/Künstlerflugblätter“, 1914

Max Liebermann, Attacke (Soldat auf galoppierendem Pferd), aus: „Kriegszeit/Künstlerflugblätter“, 1914

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl

Daniel Scislowski

* 1985 in Köln, lebt und arbeitet in Köln

Science-Fiction-Welten werden in unserer Pop-Kultur oftmals auf dem Grundstein der Konkurrenz von Technik und Natur errichtet. Ein Kampf, der in diesen Zukunftsvisionen in der Verdrängung des Organischen durch Sterilität, Kontrollierbarkeit und grundlegende „Optimierung“ des Naturgewachsenen entschieden wird. Daniel Scislowskis Grafiken Ein Pflanzen Shuttle fliegt eine Ast Station an, 08.09.2014 (2014) und Ein Raumschiff und ein Pflanzen Shuttle fliegen durch den Kosmos, 15.08.2014 (2014) zeichnen ein Bild der Natur als Stärke und Potenzial, abseits von der Technikangst des auf Optimierung getrimmten Menschen. Hier ist es das Organisch-Unkontrollierbare, das neue Entwicklungen ermöglicht und emotional als auch wortwörtlich als Mutterschiff gelesen werden kann.

Daniel Scislowski, Ein Raumschiff und ein Pflanzen Shuttle fliegen durch den Kosmos, 15.08.2014, 2014

Daniel Scislowski, Ein Raumschiff und ein Pflanzen Shuttle fliegen durch den Kosmos, 15.08.2014, 2014

Courtesy der Künstler, © Daniel Scislowski

Daniel Scislowski, Ein Pflanzen Shuttle fliegt eine Ast Station an 08.09.2014, 2014

Daniel Scislowski, Ein Pflanzen Shuttle fliegt eine Ast Station an 08.09.2014, 2014

Courtesy der Künstler, © Daniel Scislowski

Franz M. Jansen

* 1885 Köln – 1958 Büchel

Franz M. Jansens Werke sind von dominanten Linien und diagonalen Richtungen geprägt. Sie bilden ein labyrinthisches Netz aus Schwarz und Weiß, durch welches sich der rezipierende Blick finden muss, um langsam die Bilder entwirren zu können. In der Kohlezeichnung Die brennende Stadt (1916) scheinen die Linien das Motiv in entgegengesetzte Richtungen zu zerren. In Überall Mord (1920) hüllen sie die Szene in eine ruhige Ordnung. Es entsteht eine bleierne Stille, die die Erwartung birgt, bei den dargestellten Personen handele es sich lediglich um Schauspieler, die jeden Moment einatmen und ihre Rolle brechen könnten. Die stilisierte Kleidung bietet eine beruhigende Distanz zum Schrecken realer Gewaltverbrechen.

Franz M. Jansen, Die brennende Stadt, aus der Mappe „Der Krieg“ (22 Linolschnitte), 1916

Franz M. Jansen, Die brennende Stadt, aus der Mappe „Der Krieg“ (22 Linolschnitte), 1916

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl, Kunstmuseum Bonn

Franz M. Jansen, Überall Mord, 1920

Franz M. Jansen, Überall Mord, 1920

Kunstmuseum Bonn, Foto: David Ertl, Kunstmuseum Bonn

Yael Bartana

* 1970 in Afula/Israel, lebt und arbeitet in Berlin und Amsterdam

Selbst bezeichnet sich Yael Bartana als „Beobachterin“ und „pre-enactor“, welches sich als „Vorahmerin“ übersetzen ließe. In ihrer Kunst helfen verschiedene Medien, das geteilte Unbewusstsein verschiedener sozialer Gruppen an die Oberfläche zu befördern. Für das Werk Patriarchy is History (2019) argumentiert Bartana aus einer klaren feministischen Haltung heraus, indem sie versucht, strukturelles Ungleichgewicht der Geschlechter mit dem Idealzustand der Gleichstellung zu überschreiben.

Yael Bartana, Patriarchy is History (2019)

Yael Bartana, Patriarchy is History (2019)

Courtesy die Künstlerin und Galleria Raffaella Cortese, Mailand, Foto: T-Space Studio, © Yael Bartana

Monica Bonvicini

* 1965 in Venedig, lebt und arbeitet in Berlin

Monica Bonvicinis Werk umfasst insbesondere Malerei und Installation, welche oft für den spezifischen Ausstellungsort hergestellt wird, handelt oft von Machtstrukturen und Raum. Die hier ausgestellten Werke auf Papier wie Beauregard, Afternoon 2019 (2019) vereinen diese Themen in der Darstellung des Berührungspunkts von Natur und Zivilisation. Abbildungen von zerstörten, von der Natur vereinnahmten Bauwerken verbildlichen den ruhigen und langsamen Kampf zwischen dem Natürlichen und dem Menschengemachten und zeichnen somit eine Idylle der Zerstörung.

Georg Herold

* 1947 in Jena, lebt und arbeitet in Köln

Der Titel Georg Herolds Plastik The Human Factor (2009) greift die Frage nach der Essenz des Menschlichen auf. Von philosophischen Diskussionen der Moral, über religiöse und spirituelle Debatten zur Existenz der Seele, bis hin zum Vergleich des Denkvermögens von Mensch und Maschine mit dem Turing-Test: die eigene Besonderheit erscheint als eine der größten Interessen des Menschen. Herold überführt diese Thematik in das Terrain der Kunst, welche ohnehin auf dem früh-neuzeitlichen Vergleich von Künstler:innen mit dem göttlichen Schöpfer fußt. Anhand der Entstehung der menschlichen Figur aus gezimmerten Klötzen steht neben dem menschlichen Wesen auch die äußere Form im Zentrum, die einem Haufen Klötzen Menschlichkeit verleihen kann.

Georg Herold, The Human Factor, 2009

Georg Herold, The Human Factor, 2009

Kunstmuseum Bonn, erworben mit finanzieller Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen, Foto: David Ertl, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Kader Attia

* 1970 in Frankreich, lebt und arbeitet in Berlin und Paris

Aus der historischen Erforschung verschiedener Kulturräume formte sich Kader Attias Interesse an dem Begriff der „Reparatur“, welcher eng mit dem Vorfall der Verletzung und dem Prozess der Entwicklung verwoben ist. Culture, Another Nature Repaired (2014-heute) aktualisiert das traditionelle Vokabular von Büste und Sockel durch natürliche Materialien. Das Ergebnis erscheint zwischen Würdigung und Brutalität gespalten. Die Skulptur stellt einen Soldaten dar, dessen Gesicht durch den Krieg entstellt wurde und dessen Antlitz von senegalesischen Künstlern nach dem Vorbild von Fotografien in Holz geschnitzt wurde.

Kader Attia, Culture, Another Nature Repaired (2014-heute)

Kader Attia, Culture, Another Nature Repaired (2014-heute)

Courtesy Galerie Nagel Draxler Berlin / Köln / München, Foto: Sascha Herrmann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Kader Attia, Culture, Another Nature Repaired (2014-heute)

Kader Attia, Culture, Another Nature Repaired (2014-heute)

Courtesy Galerie Nagel Draxler Berlin / Köln / München, Foto: Sascha Herrmann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

KURATORIN DER AUSSTELLUNG:
Stefanie Kreuzer

@KunstmuseumBonn
#menschheitsdämmerung
www.kunstmuseum-bonn.de

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