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HEIMWEH NACH NEUEN DINGEN

Reisen für die Kunst

HEIMWEH NACH NEUEN DINGEN

Reisen für die Kunst

Inhaltsverzeichnis

01
Briefe von
August Macke

"Übrigens fühle ich mich so reiselustig, so ausgehungert nach Unternehmungen und interessanten Dingen, wie ich das selten war;
der Sommer ist so dahingegangen und hat wenig gebracht – jetzt fühle ich die Notwendigkeit in der Ferne zu sein, ich habe Heimweh und ein schier unstillbares Bedürfnis nach neuen Dingen."
August Macke, 1912

August Macke (1887–1914), der jüngste der legendären Tunisreisenden, reiste im Frühjahr 1914 mit Paul Klee und Louis Moilliet nach Tunesien, wo ihn das Licht, die Märkte und die Architektur der Stadt tief inspirierten. In Aquarellen und Gemälden hielt Macke Szenen der Medina fest – Frauen am Brunnen, Händler im Souk, Spaziergänger unter Arkaden. Mackes Arbeiten, darunter das berühmte Aquarell „Türkisches Café I“ aus Sidi Bou Saïd, spiegeln seine Begeisterung für das nordafrikanische Licht und die Farben wider. In Fotos, Tagebucheinträgen und Briefen dokumentiert er seine Eindrücke und Erlebnisse von der Reise.

TRANSIT

August Macke an Elisabeth Gerhardt, Marseille, am 9. April 1914:


Liebe Lisbeth,
Louis und Klee trafen mich in Marseille zufällig beim Hummeressen. Ich war Sonntagsnachmittag dort in einem richtigen Stierkampf (4 Tiere). Es war aber sehr scheußlich. Die Überfahrt war sehr schön. Und hier ist es so toll, daß (!) mir ganz schwindelig ist. Gestern abend sind wir im Mondschein durch die arabische Stadt marschiert und haben auf einem schönen Platz Kaffee getrunken. Gezeichnet haben wir hier schon den ganzen Morgen. Ich bin noch bei Dr. Jägghi, rue de Sparte. Gruß auch an Mutter. August

REISE

August Macke an Elisabeth Gerhardt, Tunis, am 10. April 1914:


Liebe Lisbeth!
Wir sitzen hier mitten in der afrikanischen Landschaft, zeichnen, schreiben, Klee aquarelliert. Heute morgen bin ich in der Stadt herumgelaufen und habe gearbeitet. Dann P. Auto, Hühnerragout in der Kochkiste, Sardinenbüchse, Betten etc. Der arabische Diner Ahmed hinterher als Rennfahrer. Zwei Kinder, das Landhaus von Dr. Jägghi ist prachtvoll am Meer gelegen. Wir liegen in der Sonne, essen Spargel etc. Dabei kann man sich herumdrehen und hat Tausende von Motiven, ich habe heute schon sicher 50 Skizzen gemacht. Gestern 25. Es geht wie der Teufel, und ich bin in einer Arbeitsfreude, wie ich sie nie gekannte habe. Die afrikanische Landschaft ist noch viel schöner, wie die Provence. Ich hätte mir das nie vorgestellt. 200 Schritte von uns ist ein Beduinenlager mit schwarzen Zelten, Eselherden, Kamele etc. laufen um uns herum. Wir bleiben zur Nacht hier. In Tunis wohne ich im Grand Hotel de France. Louis und Klee bei Jägghis. Abends esse ich meist bei Jägghis, die sehr sehr nett sind. Gestern waren wir in den verschiedenen arabischen Liebesvierteln. In der Sonne saßen oder standen die Weiber an der Tür. Es war ein herrlicher Anblick. So bunt und dabei so klar wie Kirchenfenster. Aber in gesundheitlicher Beziehung habe ich einen schrecklichen Horror vor dem ganzen Volk hier. Bazillen sind sicher genug da. Man darf nur nicht darüber nachdenken. Ich glaube, ich bringe kolossal viel Material heim, was ich dann in Bonn erst verarbeiten kann. Was machen die Dötze und wie geht es der Mutter? Soll ich was für Euch kaufen? Ich sehe hier oft prachtvolle Sachen, ich will aber das Geld nicht an alten Kram hängen.Nun lieber Stiwwel, ich wünsch, Du wärst bei mir, dann kriegst Du einen kolossalen Bussi vonDeinem August. Gruß an Mutter und Anni und die zwei.

RÜCKKEHR

August Macke an Bernhard Koehler, Rom, am 24. April 1914:


… Jetzt hat die Herrlichkeit bald ein Ende. Wir sitzen auf dem Monte Pincio und trinken Tee. Gestern waren wir in Palermo, wo wir einen ganz prachtvollen Nachmittag verbracht haben. Je weiter man sich vom Orient wegkommt, um so mehr lernt man ihn schätzen.

ERINNERUNGEN

August Macke an Bernhard Koehler Hilterfingen, am 30. April 1914:


… Unsere Reise war ganz köstlich. Ich rate dir dringend, das auch mal zu machen. Es ist ganz kolossal interessant. Ich habe sehr viel gearbeitet, nur muß (!) ich jetzt sehen, wie ich das alles verarbeite. Einstweilen geht es mir noch schlecht in der Beziehung. Ich fühle mich wie ein Stier, der aus dem dunklen Stall in die aufgeputzte Arena springt, hinten und vorn von farbigen Männchen gestochen. So was habe ich in Marseille gesehen. In den afrikanischen Städten ist hauptsächlich bemerkenswert, daß die Liebesdamen auf Stühlen vor ihren Zimmern sitzen, Kartoffeln schälen, ihre Kinder verwahren, Handarbeiten verwahren, Handarbeiten machen und sich gar nicht über die Leute, die vorüber gehen aufregen.In Kairouan sahen wir ganze Kamelherden um die Stadt herum, überhaupt soviel Interessantes, daß man es nicht schildern kann. In der Nähe von Tunis hatte uns Dr. Jägghi ein Landhäuschen zur Verfügung gestellt mit einem arabischen Diener Ahmed, der uns Kaffee unter die blühenden gelben Bäume brachte, wo wir mit Chamäleons und Schildkröten spielten, arbeiteten und faulenzten.


02
Künstler*innen über ihre Reisen

Im Rahmen der Ausstellung wurden die Künstler:innen Manaf Halbouni, Haleh Redjaian und Nadia Kaabi-Linke zu ihren Reisen und besonderen Erinnerungen befragt.

Die Audios wurden in deutscher Sprache aufgenommen und ins Englische übersetzt.

MANAF HALBOUNI

Hast du eine Sache, die du immer bei dir trägst?

Auf Reisen habe ich immer Musik dabei. Das ist wichtig für mich, weil ich diese Hintergrundmusik brauche. Und ein Notizbuch habe ich meistens auch immer dabei, um gewisse Gedanken und Ideen eben auch noch auf zu notieren, die währenddessen entstehen.

Was war oder ist dein Lieblingsgericht auf Reisen?

Ich glaube, das Schönste für mich ist immer, wenn ich im Süden bin, wo es frisches Obst und Gemüse gibt. Früh auf den Markt gehen, mir eine frische saftige Tomate kaufen, diese in Scheiben schneiden und in ein frisches Brot, mit etwas Zwiebeln. Ich glaube nichts kann besser sein als ein Tomatenbrot.

Was für Begegnungen magst du am liebsten?

Die schönsten Momente sind immer die unerwarteten und da schaue ich gerne auf eine Reise nach Havanna zurück, wo ich in der Altstadt von Havanna gelaufen bin und in einer Bar eine Dynamo Dresden Flagge gesehen habe. Und dann stellte sich heraus, dass der Bar-Besitzer zu DDR-Zeiten lange in Dresden gewohnt hat und auch in einem gewissen sächsischen Touch deutsch gesprochen hat. Das ist eine sehr lustige Begegnung gewesen und sehr interessant.

Was inspiriert dich am meisten, wenn du unterwegs auf Reisen bist?

Inspiration ist so eine Sache, also da gibt es nichts Spezifisches wo ich sagen kann, das inspiriert mich jetzt oder nicht. Es sind meistens einfach Geschichten, die um Sachen herum passieren. Und das ist meistens immer recht unterschiedlich. Manchmal sind es einfach nur Gebäude oder halt ein Element in einem Haus, was mich dann auf einmal zu etwas inspiriert oder die Beobachtung von einem Menschen, der irgendwas auf der Straße macht.

Hast du besondere Erinnerungen an eine Reise, bei der du etwas Neues über dich selbst gelernt hast?

Ich blicke gerne auf eine Reise, auf die erste mit unserem mobilen Staat zurück, Mobilistan. Das ist ein Kunstprojekt, was wir in der Gruppe gemacht haben. Und wenn man in einer Gruppe reist, entdeckt man sehr viele Herausforderungen und Sachen in sich selbst. Und der Umgang mit der Dynamik einer Gruppe.

Wie sieht der ideale Tag auf Reisen aus?

Der Himmel ist blau und die Sonne scheint.

Was bedeutet der Begriff Heimweh für dich? Und hast du dieses Gefühl von Heimweh auf Reisen?

Ich glaube Heimweh ist auch irgendwie so ein sehr schwieriger Begriff, aber so richtig Heimweh habe ich eigentlich nicht, wenn ich auf Reisen bin, sondern... Also gegebenfalls hat man Heimweh nach seinen Dingen, aber jetzt nicht...es ist zumindest nicht an den Ort gebunden. Daher ist es auch so ein schwieriger für mich, weil ich eigentlich ein Dauer-Nomade irgendwie bin. Und der Begriff Heimat ist für mich etwas schwierieg zu identifizieren.

Der Künstler Manaf Halbouni, wurde 1984 in Damaskus geboren und lebt seit 2009 in Dresden beziehungsweise Berlin. Für Halbouni selbst war das Verlassen der Heimat keine künstlerische Abenteuerreise, sondern biografisch begründete Notwendigkeit. Seine Arbeit reflektiert persönliche Erfahrungen zwischen der arabischen Welt und Europa und thematisiert politische sowie gesellschaftliche Themen.

HALEH REDJAIAN

Was war oder ist dein Lieblingsgericht auf Reisen?

Das Essen ist ein ganz wichtiger Aspekt auf meinen Reisen, also deswegen gibt es natürlich sehr viele Lieblingsgerichte, aber wahrscheinlich eins, womit ich auch sehr viele besondere Erinnerungen verbinde, ist ein spezieller Milchpudding mit Pistazien, den ich das erste Mal in Damaskus auf dem Bazar gegessen habe. Und ich bin eigentlich immer noch nach dieser Suche, nach diesem ganz speziellen Geschmack und dieser ganz speziellen Konsistenz, die ich auf dieser Art und Weise nie mehr wieder gehabt habe. Es war wirklich für mich eine…ganz, ganz besondere Erinnerung an dieses Gericht und an diese Umgebung, an der ich in dem Moment war und auch, ich glaube, das beeinflusst auch oft die Erinnerung zu einem bestimmten Gericht sehr.

Hast du eine Sache, die du immer bei dir trägst?

Auf Reisen habe ich meistens ein Notizbuch dabei, eigentlich habe ich immer ein Notizbuch dabei und in dem ich alles Mögliche aufschreibe, von Telefonnummern bis Ideen. Auch manchmal Sachen, die ich nicht vergessen kann. Es ist nicht wirklich eine Sorte Tagebuch, aber es ist ein bisschen von allem was drinnen. Und außerdem schreibt mir meine Mutter immer einen kleinen Zettel mit einem Gedicht oder einem Gebet, dass sie mir dann in die Tasche steckt, das ich auch meistens danach immer noch unter meiner Tasche habe, aber für größere Reisen schreibt sie meistens einen neuen Zettel.

Was bedeutet der Begriff Heimweh für dich? Und hast du dieses Gefühl von Heimweh auf Reisen?

Im Augenblick bin ich wahrscheinlich an so einem Punkt, wo ich gar nicht genau weiß, was Heimweh ist. Ich denke, im Moment hat es gar nicht so viel mit einem bestimmten Ort zu tun als mit Menschen, die ich um mich haben möchte und mit denen ich Zeit verbringen möchte, bei denen ich mich wohlfühle. Früher war es der Ort, an dem meine Eltern waren. Ich hatte tatsächlich manchmal Heimweh nach Offenbach und da gab es wahrscheinlich auch noch die Sehnsucht, die für mich auch manchmal mit Heimweh Hand in Hand geht und das war die Sehnsucht nach dem Haus meiner Großmutter in Teheran. Aber in dem Sinne kann ich im Moment Heimweh gar nicht mit einem Ort verbinden.

Die Künstlerin, geboren 1971 in Frankfurt am Main geboren, lebt und arbeitet in Berlin. In ihren Arbeiten verbindet sie westliche geometrische Abstraktion mit persischer Handwerkstradition und schöpft dabei aus zwei Kulturräumen. Haleh Redjaian nutzt präzise Linien und Raster und bricht diese gezeilt durch Unregelmäßigkeiten auf.

NADIA KAABI-LINKE

Wie sieht der ideale Tag auf Reisen aus?

Ein idealer Tag auf Reisen sieht bei mir so aus, dass ich genug geschlafen habe, Zeit zum Meditieren hatte und den Himmel betrachten konnte und mich somit wirklich energetisch freuen kann auf den Tag. Das ist übrigens immer der ideale Tag. Aber besonders auf Reisen ist das wichtig, denn so wie ich meinen Tag anfange, mit welcher Intention, wird auch der Tagesverlauf beeinflusst. Später sind natürlich die Begegnungen sehr wichtig, der Plan, den ich für meinen Tag mache. Ich lasse dabei immer viel Raum für Überraschungen. Für mich ist die Entdeckung sehr, sehr wichtig und ich möchte mich einfach auf die Situationen einlassen können. Ich will nicht sehr viel planen. Und ich finde Zufälle und Begegnungen sind das A und O beim Reisen.

Was für Begegnungen magst du am liebsten auf Reisen?

Die wichtigsten Begegnungen natürlich sind mit Menschen, Tiere sind auch sehr wichtig und auch Bäume. Ich bin ein Mensch, der sehr, sehr verbunden ist mit der Erde und wenn ich in einen neuen Ort komme, versuche ich in der Regel sehr früh die Erde zu begrüßen, zu berühren und mich vorzustellen. Die Bäume zu berühren und ein bisschen den Impuls des Ortes durch die Natur zu spüren und das ist sozusagen meine erste Begegnung. Es ist oft eine sehr schöne, weil diese Begegnung täuscht nie. Ich verstehe mich selbst als Teil der Natur und natürlich ist es wunderbar, mit den Leuten direkt in Kontakt zu kommen. Es gibt nicht eine bestimmte schönste Begegnung, würde ich sagen, weil je nach Land, je nach Ort ist es sehr unterschiedlich. Manchmal sind die Begegnungen einfache Zufälle auf der Straße, die man gar nicht erwartet. Wenn man anfängt, einfach so Small Talks zu machen und man dabei so unmögliche und unerwartete Geschichten und Entwicklungen entdeckt. Manchmal sind das zum Beispiel, wenn ich... Ich reise sehr oft für meine Arbeit und treffe Kollegen, Künstler und Kuratoren und es passiert...Also neulich, ist es so passiert, dass ich eine Künstlerin kennengelernt habe und sie ist auch, so ähnlich wie ich aus Nordafrika – ihr Vater stammt aus Algerien und ihre Mutter, hat einen slavischen Hintergrund, Russin – und wir kannten uns nicht, aber ich hatte das Gefühl, als würde ich eine Schwester treffen und das ist so natürlich, immer wunderbar und magisch. Aber es muss nicht unbedingt professionell sein, manchmal sind es einfach so flüchtige Treffen und diese Erinnerungen bleiben. Die behält man für immer mit sich.

Gibst es eine Sache, die du immer bei dir trägst?

Ich habe eine Sache, die ich immer bei mir trage, bei jeder Reise und das ist ein Ring. Und diesen Ring hat mir mein Mann zu meinem 30. Geburtstag geschenkt und er bedeutet mir sehr, sehr, sehr viel. Das ist mein Glücksbringer. Ich reise einfach nie ohne meinen Ring. Wenn ich den Ring anschaue, fühle ich meine Verwurzelung in der Welt. Ich bin oft dann weit weg von meiner Familie, von meinen Kindern, von meinem Mann. Und ja, dieser Ring erinnert mich jeden Moment daran, dass sie für mich da sind und ich auch für sie da bin.

Was inspiriert dich am meisten, wenn du unterwegs auf Reisen bist?

Es gibt, wie gesagt, nicht eine bestimmte Sache, die mich am meisten inspiriert. Vielleicht ist mein Bezug zur Natur das, was ich am stärksten empfinde. Und mein Instinkt führt mich direkt dahin, wo das Meer ist, wenn ich in einem Ort bin. Ich versuch den Horizont als Erstes zu sehen, weil die Weite ist das, was ich am meisten vermisse in Mitteleuropa. Ich bin ein Kind des Meeres sozusagen. Und da versuche ich direkt, weil das ist der Ort, wo ich mich am freisten fühle, wo die Ideen einfach zu mich kommen. Sie stoßen auf mich zu, wenn ich am Meer bin. Sonst kann mich alles inspirieren, sogar ein Stück Müll kann mich inspirieren, ein Geräusch, ein Geruch, ein Gespräch. Das ist wirklich ganz, ganz unterschiedlich. Und ich nehme oft Sachen in meine Erinnerung auf. Meine Augen sind wie ein Fotoapparat. Früher war es ein Fotoapparat, jetzt ist es mein Handy, aber ich habe auch immer ein Notebook dabei. Ich schreibe Stücke auf, Ideen, Skizzen. Also das ist immer in meiner Tasche dabei.

Was ist oder war dein Lieblingsgericht auf Reisen?

Ich entdecke sehr, sehr oft unterschiedliche Essens-Arten – da bin ich sehr neugierig und offen. Ich muss sagen, das, was mich am meisten beeindruckt hat, wenn ich so spontan nachdenke, war es die Essens-Reise in Ahmedabad. Es ist im Gujarat in Indien und mein Lieblingsgericht war vielleicht ein traditionelles Thali, wo man die unterschiedlichste verschiedene Essens-Arten auf einem Teller kriegt und es ist unendlich. Die kommen und füllen immer wieder nach und das ist so raffiniert und unterschiedlich. Man reist zwischen scharf und süß und salzig und das ist wirklich wie eine wunderbare Symphonie im Mund. Ja, das behalte ich für immer mit mir.

Hast du besondere Erinnerungen an eine Reise, bei der du etwas Neues über dich selbst gelernt hast?

Oh, das passiert jedes Mal. Also ich entdecke immer eine neue Seite oder Facette von mir. Also ein Mensch entwickelt sich und verändert sich mit der Zeit. Aber am intensivsten passiert das auf Reisen. Deswegen ist es ein Prozess, aber ich würde sagen, die intensivsten Unterschiede zeigen sich, wenn ich in meine Heimat zurückkehre, in Tunesien, weil da merke ich am stärksten, wie das Land sich entwickelt hat und ich mich hingegen auch anders entwickelt habe. Das ist wie ein Kompass. Ich merke, dass meine Wahrnehmung sich verändert hat, meine Reaktionen zum Beispiel auf meine Eltern, wie sie sich auch mit der Zeit verändern, auch meine Nachbarn, Freunde, Kollegen. Denn ich wohne halt in Deutschland, seit über 20 Jahren, und wenn ich nach Tunesien zurückkehre, wird ein Teil von mir natürlich wieder erweckt. Also ich spüre dann ganz deutlich meine Wurzeln – alles ist mir vertraut und nah. Gleichzeitig merke ich aber auch, wie sehr ich mich tatsächlich verändert habe.

Was bedeutet der Begriff Heimweh für dich? Und hast du dieses Gefühl von Heimweh auf Reisen?

Das hat sich mit der Zeit sehr, sehr verändert. Nachdem ich Tunesien verlassen habe, ich war damals 21 Jahre alt, hatte ich in den ersten jahren extrem, extrem Heimweh gehabt. Also ich kann sogar das Wort Leiden benutzen. Ich habe gelitten, weil ich weit weg war. Und das hat gedauert, vielleicht gute zehn Jahre, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Also die ganze Zeit, als ich in Frankreich gelebt habe für mein Studium, ich habe eine starke Sehnsucht nach meiner Sprache gehabt. Am meisten nach der tunisischen Sprache, nach unserem Dialekt, den Farben, dem Essen, den Gerüchen, meinen Freunden, Familie, das war sehr, sehr schwer. Mittlerweile habe ich schon mehr als die Hälfte meines Lebens in Westeuropa gelebt, vorallem in Deutschland. Und Berlin ist meine, sozusagen Wahlheimat, wie ich das so gerne sage. Ich fühle mich jetzt wohl hier, meine Kinder sind hier geboren, mein Mann ist Deutscher, aus dem Rheinland. Ich fühle mich heute in Deutschland sehr, sehr wohl. Das heißt nicht, dass ich mein Land vergessen hätte, das vermisse es. Aber ich kann nicht mehr von Leiden sprechen oder nichtmal Heimweh. Es ist eher Nostalgie. Aber ich fühle mich auch überall pikobello wohl. Ich betrachte mich wie ein Bewohner der Welt. Die ganze Erde ist meine Heimat heutzutage.

Nadia Kaabi-Linke, 1978 in Tunis geboren, dort und in Kiew aufgewachsen und in Berlin lebend, studierte zunächst an der École des Beaux-Arts in Tunis und später an der Université Paris-Sorbonne, wo sie 2008 promovierte. Kaabi-Linkes Arbeit reflektiert nicht nur ihre persönliche Erfahrung als transkulturelle Künstlerin, sondern auch die komplexen Dynamiken von Migration, Erinnerung und geopolitischen Spannungen.

KURATORIN DER AUSSTELLUNG:
Dr. Barbara J. Scheuermann

KÜNSTLER*INNEN ÜBER IHRE REISEN
Zusammengestellt von Fatima -Cinzia Ahmad

BRIEFE VON AUGUST MACKE
Zusammengestellt von Sarah de Haan

@KunstmuseumBonn
#heimwehnachneuendingen
www.kunstmuseum-bonn.de

Mit freundlicher Unterstützung von

Kunststiftung NRW

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